Aerial Yoga: Schwerelos, entspannend, etwas kurios

Es soll besonders befreiend sein, wenn man in Tüchern von der Decke hängt. Katja Behm lässt Menschen schweben, die ausreichend Vertrauen in ein etwa 10 Quadratmeter großes Stück Stoff haben. Der Alltag einer Aerial Yoga-Lehrerin, die eigentlich Ornithologin ist.

Es klackt. Mitten im Raum steht Katja Behm auf einer großen Holzleiter. Die Yoga-Lehrerin ist dabei, zwei große, schwarze Stahlkarabiner an einen unter der Decke hängenden, kräftigen Stahlträger zu klippen. An jedem der beiden Karabiner ist jeweils ein Ende eines etwa 5 Meter langen und 2,60 Meter breiten, lilafarbenen Tuchs befestigt. „Die halten mehrere Tonnen an Gewicht“, erklärt Behm während sie routiniert die Sprossen heruntersteigt. Es folgen vier weitere Tücher in kräftigen Blau- und Rottönen. Sie bereitet den Raum für den montagabendlichen Aerial Yoga-Kurs vor. Das fein-gemusterte, hellbraune Eichenparkett wird von der Abendsonne eines vorsommerlichen Tages beschienen. Vor den weit geöffneten Fenstern wiegen sich halbdurchscheinende, weiße Vorhänge – zugezogen lassen sie das Licht diffus werden.

Von der Matte ins Tuch

Die bunten Tücher sind aus Nylon gewebt. „Die sind sehr weich. In der Länge ist der Stoff fest und nicht dehnbar, in der Breite aber umso elastischer. Das ist perfekt fürs Aerial Yoga.“ Verschiedenste Posen werden hierbei mit wenig bis keinem Kontakt zum Boden eingenommen. Weil diese Form so einzigartig ist, werde in Luft- und Land-Yoga unterschieden. Katja Behm lehrt beide Varianten. Vor 11 Jahren wurde sie Yoga-Lehrerin. „Ich komme aus Stadthagen, da war das Angebot leider nicht allzu groß. Also habe ich die Ausbildung gemacht, um frei von den VHS-Angeboten zu werden.“ 3 Jahre später kam die Aerial-Ausbildung hinzu. „Ich habe schon immer total gerne geschaukelt. Zuhause hatte ich immer eine Hängematte im Garten und irgendwann hat mein Mann mir auch in meinem Arbeitszimmer eine installiert.“ In einer Yoga-Zeitschrift las sie dann zum ersten Mal vom Luft-Yoga und war begeistert von dem Konzept und den ästhetischen Bildern. Zum Geburtstag bekam sie eine Einzelstunde in Hamburg geschenkt. Aerial war damals noch weniger verbreitet, als es heute ist. Die Probestunde habe sie direkt überzeugt. Sie nahm ihr erstes Tuch mit nachhause und begann kurze Zeit später die Weiterbildung.

Kopfüber ist es am schönsten

Das Programm für die fünf Teilnehmer*innen beginnt an diesem Abend mit einem Kokon. Seitwärts sitzen sie in ihren Tüchern. Ein Bein nach links, ein Bein nach rechts – die Tuchenden sind über die Füße gespannt. Vor und hinter ihnen befindet sich das Tuch – sich anzulehnen scheint bequem zu sein. Die Beine sind gespreizt und werden mit jedem Ein- und Ausatmen abwechselnd von den Knien abwärts langsam ein- und ausgeklappt. Berühren sich die Fußsohlen, befinden sich die Teilnehmer*innen in ihren eigenen kleinen Höhlen, in ihren eigenen kleinen Kokons. Abgeschnitten von der Außenwelt. „Dabei fühle ich mich immer so geborgen“, berichtet später Constanze Strähnz, eine Teilnehmerin. „Der Kokon war anfangs wie ein Schlüsselmoment für mich. Seitdem komme ich regelmäßig wieder.“ Am meisten freue sie sich auf die Umkehrhaltungen: „Wenn man kopfüber hängt und die Wirbelsäule auseinandergezogen wird. Das tut so gut!“ Nach dem Luft-Yoga habe sie dann immer das Gefühl, drei Zentimeter größer zu sein. Sie praktiziere jeden Tag Land-Yoga, wobei ihr gerade auch die fordernderen Einheiten gefielen. „Beim Aerial weiß ich aber immer: Das ist jetzt mein Entspannungsabend heute.“

Für kein Alter ein Problem

Es folgen immer neue Posen und Bewegungen. Darunter auch bekannte aus dem klassischen Yoga, wie der Herabschauende Hund – mit Unterstützung und Halt durch das Tuch. Behm erklärt eine weitere, kurze Bewegungsabfolge. Wenige Sekunden später hängen alle fledermausartig kopfüber in ihren Tüchern, nur von den Schultern gehalten. Man brauche zwar schon ein wenig Körperspannung, aber im Normalfall würden es alle schaffen. Das Tuch unterstütze und erleichtere die Übung sehr, erklärt Behm. „Altersmäßig ist es hier immer ein von bis. 80-Jährige sind durchaus auch mal dabei. Genauso aber auch ganz junge Frauen.“ Die meisten beim Aerial Yoga seien weiblich, es gebe nur ganz wenige Männer. „Viele kommen wegen Rückenproblemen. Viele sagen aber auch: ‚Das ist schön, das macht Spaß‘. Mir ist es auch wichtig, dass es locker und nicht so ernst ist.“

Zähneputzen für die Wirbelsäule

Während die Kurs-Teilnehmer*innen in ihren Tüchern herumturnen, ist Behm fast die ganze Zeit am Reden. Nicht nur die Bewegungen, auch das Tuch müsse sie ansagen. Dafür greift sie auf ein Repertoire an Sätzen zurück, das sie sich über die Jahre angeeignet habe. Trotzdem variiere sie ihre Worte immer wieder, damit es nicht zu eintönig werde. „Meine Lehrerin trieb es bei der Ausbildung auf die absolute Spitze: Bei der Prüfung mussten wir mit ihren auswendiggelernten Worten anleiten.“ Mittlerweile bildet Behm selbst aus. Sie gebe zwar grobe Texte zur Hilfe vor, aber es gehe nur darum, mit wenigen Worten, schnell und exakt zu formulieren. Besonders stolz sei sie auf Eigenkreationen, wie das „Zähneputzen für die Wirbelsäule“, berichtet sie und lacht – eine Umschreibung für das entspannende Kopfüberhängen.

Zwischen Federn und Leichtigkeit

Die Feder ist als Symbol nicht nur Teil von Katja Behms „Aerial Yoga Hannover“-Logo, sondern auch fester Bestandteil ihres übrigen Lebens. Als Ornithologin bei der Staatlichen Vogelschutzwarte des Landes Niedersachsen beschäftigt sie sich auch außerhalb des Lehrens mit Federn – beziehungsweise den dazugehörigen Vögeln. Ihr Hauptjob nehme etwa Dreiviertel ihrer Zeit in Anspruch. „Ich war schon immer sehr naturverbunden. In meiner Kindheit hatten wir auch ein Bestimmungsbuch für Vögel zuhause. Das war ganz normal.“ Es folgte ein Studium der Landespflege mit einer Spezialisierung auf Zoologie. „Durch meine Diplomarbeit über Vögel bin ich dann bei der Vogelschutzwarte gelandet.“ Die Leichtigkeit der Tiere in der Luft habe sie fasziniert. „Und genau das ist ja auch Teil vom Aerial Yoga.“

Schwingende Entspannung und Dankbarkeit

Wie in ihrer eigenen kleinen Welt liegen die fünf Teilnehmer*innen waagerecht, langgestreckt und mit vor der Brust verschränkten Armen komplett umhüllt in den samtigen Tüchern. Nur am Fuß- und Kopfende bilden die Öffnungen schmale Lücken nach außen. Behm geht herum, um die Tücher mit einem dezenten Stupser zum Schwingen zu bringen. Die Endentspannung beginnt. Sanfte Musik füllt den Raum aus. Durch die weit geöffneten Fenster geben zwitschernde Vögel ein belebendes Konzert. Nach einigen Minuten sind die Tücher ausgeschwungen. Die Teilnehmer*innen beginnen sich vorsichtig zu regen, bevor sie langsam aus ihren Tüchern steigen. Wieder am Boden angekommen, recken und strecken sie sich. Jede*r Einzelne trägt ein kleines Lächeln auf den Lippen. Die Entspannung und Dankbarkeit für die vergangenen 75 nahezu-schwerelosen Minuten sind ihnen anzusehen. „Das ist das Schönste, auch im Vergleich zu meinem anderen Job, der mehr eine Bürotätigkeit ist. Was aus den Daten wird, die ich da abgebe, bekomme ich in der Regel gar nicht mit. Hier habe ich mit Menschen zu tun. Und ganz oft ist es so, dass die Leute sagen: ‚Das war toll, das hat mir gutgetan‘.“

Yoga: kein Sport, sondern ein Lifestyle

Fürs Land-Yoga nehme sie sich zwischen ihrem Hauptjob und der Lehrtätigkeit dennoch jeden Morgen die Zeit – das gebe ihr Kraft für den Tag: „Manchmal ist es nur eine Viertelstunde, meistens eher eine halbe bis dreiviertel Stunde. Es gehört für mich zum Leben dazu, weil Yoga auch kein Sport ist – Yoga ist ein Lifestyle.“ In einem unbeobachteten Moment, während die Teilnehmer*innen in ihrer Endentspannung schaukeln, geht Behm nochmal selbst in ihr hellgraues Tuch. Sie habe im Moment keines zuhause und nutze die wenigen Minuten für sich. „Dann häng ich mich immer selbst nochmal aus, ein bisschen mit dem Kopf nach unten.“ Denn auch ihre Wirbelsäule will schließlich „geputzt“ werden – bevor Behm wieder auf die Leiter steigt, die Tücher von der Decke nimmt und es für sie mit dem E-Bike nachhause in den Feierabend geht.

Autorenfoto Maarten Hoffmeyer | Foto: Charlotte Schreiber

Maarten Hoffmeyer

Ich studiere Journalistik an der Hochschule Hannover. Auf dieser Website teile ich meine Studienprojekte und -ergebnisse auf dem Weg zum Journalisten.

Der Website-Titel „HINTERGRUND“ steht für die Einblicke, die ich mit meinen Texten und Projekten gebe.

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