Für David geht mit seinem Beruf ein Lebenstraum in Erfüllung. Sein großer Wunsch: Züge steuern. Er brach ein Studium ab, wechselte seinen Bildungsweg und ließ sich zum Triebfahrzeugführer ausbilden. Ein Porträt eines Eisenbahners.
Vor uns tauchen gelbliche Lichter in der Dunkelheit einer frostigen Januarnacht auf. Sie spiegeln sich in den glänzenden Schienen und formen ein bizarr-täuschendes Bild von wohliger Wärme. Ein kleiner Ruckler nach links, ein kleiner Ruckler nach rechts – wir werden auf das richtige Gleis gelotst. Anonyme Gesichter werden langsam zu erkennbaren Personen. Ihnen ist die Freude anzusehen, ihren nebligen Atem in wenigen Momenten gegen die trockene Luft der Zugheizung eintauschen zu können. Wir fahren in den End-Bahnhof Kassel ein. „Es fühlt sich an wie Heim kommen“, schwärmt David während ein Lächeln über sein Gesicht huscht.
Eins mit der Schiene
Im letzten Juli schloss der gebürtige Kasseler seine Ausbildung ab. Seitdem ist er als Triebfahrzeugführer für das südhessische Regionalbahn-Unternehmen cantus unterwegs. Abwechselnd zwischen Kassel und Fulda, Bebra und Eisenach, Göttingen und Kassel oder Göttingen und Bebra. Strecken, auf denen er fast jeden Meter genaustens kennt. „Wir lernen die Strecken quasi auswendig. Im Endeffekt müssen wir immer in jeder Situation wissen: Wo sind wir gerade? Wie weit können wir fahren? Wie schnell dürfen wir fahren? Wo stehen die Signale? Wo sind irgendwelche Besonderheiten, auf die man vielleicht achten muss?“ Dadurch weiß er auch, wie er am besten an den Bahnsteigen halten muss, damit alle komfortabel ein- und aussteigen können.
Mit mehr als 125 Tonnen Gewicht und fast 75 Metern Länge ist sein Zug zwar ein ganz schöner Koloss, trotzdem habe er ein gutes Gefühl für die Maschine. „Es ist wie beim Fahren mit dem Auto. Ich merke, wenn die Gleise rutschig sind und ich früher mit dem Bremsen anfangen muss.“ Wenn es besonders glatt wird, könnte er mit einem Knopfdruck sogar Sand vor die Räder werfen. Das erhöhe die Reibung und helfe beim Anhalten. Unter dem Zug sind dafür entsprechende Vorrichtungen verbaut.
Wir sind unterwegs von Göttingen nach Kassel Hauptbahnhof. In Eichenberg, am zweiten von insgesamt neun Zwischenhalten, wird der hintere Zugteil vom vorderen getrennt. Für das Vorderstück geht es weiter nach Bebra, das Hinterstück setzt seine Fahrt fort. Wir halten und haben fahrplanmäßige vier Minuten Zeit. Eine kurze Absprache mit dem Triebfahrzeugführer im vorderen Teil und eine Eingabe an der Führerstands-Konsole später: Die Kupplung löst sich vollautomatisch, ein leises Klacken ertönt. Die Fahrt kann weitergehen.
Eine Verantwortung für hunderte Passagier*innen
Mit bis zu 160 km/h fährt David durch die hügelige Landschaft, seine erlaubte Höchstgeschwindigkeit. Die schnellen Abschnitte mag er am liebsten. „Das ist einfach ein schönes Gefühl.“ Der Fernverkehr sei für ihn aber keine Option. Es sei ein Luxus, jeden Abend in das eigene Bett nach Hause zu kommen. „Ich würde aber schon gerne mal einen ICE mit 300 fahren.“ Geschwindigkeiten, bei denen es aber auch mal rumst: „Ich selbst habe noch kein Tier erwischt – toi toi toi! – aber ich melde sie dafür sehr regelmäßig.“ Rehe, Wildschweine, Füchse seien keine Seltenheit. „Wenn größere Tiere auf der Fahrstrecke bemerkt werden, wird eine Schnellbremsung eingeleitet. Aber auch das reicht oft nicht mehr aus.“
Für bis zu 460 Fahrgäste trägt der 22-jährige die Verantwortung. Die genaue Zahl ist ihm aber nicht so wichtig: „Mir ist es egal, ob drei oder 3000 Leute mitfahren – wenn sie reinpassen würden.“ Wird es besonders voll, muss er allerdings handeln. „Sobald Leute am Bahnsteig stehen bleiben, weil sie nicht mehr in den Zug passen – das muss ich dann melden.“ Schmunzelnd ergänzt er: „Und dann kommt meist diese Info in der App: ‚Keine Fahrradmitnahme möglich‘.“
Toiletten-Halte auf freier Bahn?
Volle Züge sind jedoch nur halb so schlimm, wie volle Blasen: Während der Fahrt zur Toilette? Das geht für Triebfahrzeugführer*innen nicht. „Du musst nicht“, erklärt David lachend und nippt an seiner Limo. „Du musst anderthalb Stunden auch mal fahren können.“ Im Ernstfall helfen die Fahrdienstleitung und die Leitstelle aber selbstverständlich weiter und erlauben einen kurzen Toilettenaufenthalt an einer gut überholbaren Stelle. „Alle bei der Eisenbahn arbeiten zusammen, man ist eine große Familie.“
Bei allen entgegenkommenden ICE, Güterzügen und Regios fällt auf: Bahnmenschen grüßen sich. Eine Lichthupe, eine grüßende Hand. „Wie bei Busfahrer*innen. Wie bei Straßenbahnfahrer*innen. Das ist halt einfach so.“ Man kenne sich natürlich nicht immer, das mache aber keinen Unterschied. „Es ist egal, von welchem Unternehmen die Leute sind. Wir grüßen uns alle immer gegenseitig. Bei so vielen Lokführer*innen kannst du natürlich nicht alle kennen.“ Bei direkten Kolleg*innen von cantus sieht es anders aus: „Auch einfach nur daran, wie er*sie dich grüßt, weißt du schon, wer das ist.“
Der Fahrdienstleiter aus Hedemünden meldet sich. Wir müssen warten. „Sehr geehrte Fahrgäste, hier in Hann-Münden werden wir nun durch einen Fernverkehrszug überholt. Wir setzen unsere Fahrt dann in Kürze fort“, gibt David per Lautsprecher an die Reisenden weiter. Eine Regionalbahn und ein ICE brettern vorbei. Bei Durchsagen sei er nicht mehr aufgeregt: „Höchstens vor der Reaktion der Fahrgäste. Weil manchmal sind die dann auch nicht so nett.“ Wenn mal eine Strecke gesperrt ist und es nicht weiter geht, formuliere er besonders durchdacht: „Da überlegst du dir dann schon zwei Mal, was du sagst und wie du es sagst. Da versuchst du dann eher auf Empathie zu gehen, versuchst sympathisch zu wirken.“ Aber auch bei höherer Gewalt gebe er sein bestes, damit die Leute irgendwie weiterkommen. Seine größte Verspätung habe er in Hannoversch Münden erlebt: „Die Strecke war dicht und erst nach fünf Stunden ging es weiter.“
Im Tarifkampf mit der GDL
„Wir haben im Endeffekt schon einen ‚Scheißjob‘. Aber die Arbeit macht mir halt Spaß, deshalb mache ich sie auch sehr gewissenhaft.“ 9,5-Stunden-Schichten seien keine Seltenheit. Trotz einer theoretischen 39-Stunden-Woche müsse wegen Schichtarbeit und Fachkräftemangel oft bis zu sechs Tagen in der Woche gearbeitet werden. Die GDL fordert deshalb aktuell unter anderem eine echte Fünf-Tage-Woche. Die Absenkung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden würde dabei automatisch zu mehr Ruhetagen führen.
Ob er selbst noch gerne Zug fährt, obwohl er das auch beruflich den ganzen Tag macht? „Auf jeden Fall!“, bestätigt David. Neben der alltäglichen Straßenbahnfahrt zur Arbeit ist er wann immer möglich auf der Schiene unterwegs. „Ich finde das einfach viel entspannter, als mit dem Auto.“ So habe er schon halb Europa mit der Bahn bereist. Und seine nächste größere Reise steht auch schon fest. Im kommenden Mai fährt er zum ESC nach Malmö – natürlich mit der Bahn, aber mit einer Besonderheit: Nach Schweden geht es mit dem Nachtzug.