Kindern fällt es immer schwerer zu spielen. Die übermäßige Nutzung digitaler Medien bringt den Dopamin-Haushalt durcheinander und mindert die Kreativität. Ein Problem der neuen Generationen.

Ein Junge, wie er überall in Deutschland zur Grundschule gehen könnte, sitzt neben seinem Vater auf einer kleinen Couch in einem gemütlich eingerichteten Behandlungszimmer in Gehrden bei Hannover. Eine Playmobil-Ritterburg steht in der Ecke, so groß gebaut, wie eine solche Burg nur sein kann. Kippelige Teile sind mit Heißkleber und zusammengesuchten Ersatzteilen repariert. Die Burg ruft förmlich: „Spiel mit mir!“ Ritter und Jägerinnen, eine Königin mit Zauberschwert und gefangene Prinzen haben hier schon gewohnt. Auf einem der Sessel lässt sich Dr. Oliver Dierssen nieder. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Er nimmt einen kurzen Blick des Jungen zur Burg wahr und ermutigt ihn zum Spielen. „Langweilig“, antwortet dieser und wendet sich ab.
Ritterburg vs. Handyspiele
Bis 2020 habe fast jedes Kind unter 12 Jahren mit der großen Burg gespielt, während Dierssen die Anamnese erhob und Eltern beriet. Mehrere hundert sollen es gewesen sein, oft Grundschüler*innen mit Schulproblemen. Kinder kämen auch weiterhin, fünf bis zehn am Tag und oft mit Geschwistern – die Burg bleibe jedoch immer öfter unberührt. Die Kinder sähen keine Geschichten, keine Erlebnisse, keine Spielfreude in ihr. Sie nähmen nur die Hülle dessen wahr, was dort steht: eine graue Kunststoffplastik. Wilde Rollenspiele fänden kaum noch statt. „Ich werde nicht mehr beschossen und auch nicht mit dem Flugdrachen angeflogen.“
Dierssens Vermutung: Die elektronischen Medien sind schuld. Dopamin wird unter anderem durch Handyspiele ausgeschüttet und sorgt für einen schnellen Kick im Belohnungssystem der Heranwachsenden. Das reduziere die Aufmerksamkeitsspanne immens. Die Kinder müssen sich für ein Erfolgserlebnis nicht mehr über eine längere Zeit auf eine Sache konzentrieren.
Bildschirmzeit schränkt kognitive Entwicklung ein
Wie die Aufmerksamkeit und die kognitive Leistung mit der Bildschirmnutzung zusammenhängen, untersuchten Forscher*innen der National University of Singapore. Für ihre 2023 veröffentlichte Studie führten sie jeweils zwei Tests bei Kindern durch – einen ersten im Alter von zwölf Monaten und einen weiteren acht Jahre später. Das Ergebnis: Je höher die Bildschirmzeit der Kleinkinder beim ersten Test war, desto mehr Probleme gab es in der kognitiven Entwicklung der Neunjährigen beim zweiten Test. Auch die Aufmerksamkeitsspanne war bei erhöhter Bildschirmnutzung niedriger. Die Eltern gaben an, dass ihre Kleinkinder im Alter von zwölf Monaten im Durchschnitt gut zwei Stunden täglich vor einem Bildschirm verbrachten. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) empfiehlt, Kinder unter drei Jahren komplett von Bildschirmmedien fernzuhalten – Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren sollten an einzelnen Tagen nicht länger als 30 bis 45 Minuten mit Bildschirmen verbringen. In einer Leitlinie der DGKJ heißt es: Je weniger Zeit Kinder vor Bildschirmen verbringen, desto besser.
Vom Bildschirm auf den Schulhof
Die Realität erlebt die Hannoversche Grundschullehrerin Christina Behrens (Name geändert) anders: „Wenn die Kinder am Montag vom Wochenende erzählen, berichtet kaum ein Kind, was es Tolles gemacht hat. Oft sind sie einfach zu Hause, gehen nicht raus und sind eben häufig am Handy, am Tablet oder an den Spielekonsolen.“ Dabei falle Behrens auf, dass die Kinder oft nicht einmal wüssten, wie die Spiele heißen, die sie spielen. „Auch von den Spielen wird nichts berichtet, was daran toll ist. Sie zocken einfach nur.“ Das spiegelt sich auch darin wider, was auf dem Schulhof gespielt wird. So sei momentan „Rotes Licht, grünes Licht“ beliebt, das Ampel-Spiel aus dem Netflix-Hit Squid Game. „Meistens werden nur Spiele gespielt, die die Kinder schon von den Geräten kennen. Das hat einen großen Einfluss.“ Den Kindern steht in den Klassenzimmern auch Lego zur Verfügung. Gebaut würden jedoch nur Dinge, die sie bereits aus Videospielen und anderen Bildschirminhalten kennen.
Schlecht für Fantasie, gut für Technikkompetenz
Forscher*innen der Universität Uppsala und des University College London fanden in einer 2022 veröffentlichten Studie heraus, dass Kinder an Tablets weniger kreativ spielen, als mit herkömmlichem Spielzeug. Innovatives, fantasievolles Spielen ist am Tablet seltener – genau diese Spielform ist ein Schlüsselelement für kognitive Flexibilität und soziale Fähigkeiten. Digitale Spiele fördern jedoch das sogenannte explorative Lernen, indem Probleme gelöst werden müssen oder Funktionen getestet werden können. Die Forscher*innen betonen außerdem, dass der frühe Erwerb von Technikkompetenzen in einer technikgeprägten Welt durchaus relevant sei. Sie schlagen deshalb vor, digitale und physische Spielzeuge zu kombinieren, da beide unterschiedliche Entwicklungsbereiche fördern können. Die Psychologin Dr. Avelina Lovis Schmidt ist gegenüber ZDFheute weitaus skeptischer: „Das Gehirn lernt vor dem Bildschirm nicht gut, weil es uns nicht leicht fällt, dort Sachen zu begreifen. Kinder nehmen alles in die Hand, sie begreifen ihre Umwelt. Das kann man vor dieser flachen Scheibe einfach nicht.“ Sie erforscht an der TU Chemnitz die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Eltern-Kind-Gespräche sind wichtig für Spracherwerb
Grundschullehrerin Behrens sieht kritisch, dass viel über Messenger-Apps kommuniziert wird: „Die Kinder sind nicht immer in der Lage, in vollständigen Sätzen an eine Person zu schreiben. Unter anderem wegen der Emojis, ist das bei WhatsApp auch gar nicht nötig.“ Die sprachlichen Fähigkeiten werden dadurch jedoch enorm eingeschränkt.
Der Spracherwerb kann unter der Nutzung von Bildschirmmedien leiden – auch schon im jungen Alter. Das fanden Forscher*innen der University of Western Australia in einer 2023 veröffentlichten Studie heraus. Mit einer höheren Bildschirmzeit werden gleichzeitig die Eltern-Kind-Gespräche weniger. Bei Dreijährigen bedeutet jede Bildschirmminute 6,6 gesprochene Wörter von den Eltern und 4,9 Laute von den Kindern weniger. Gerade im jungen Alter entwickeln sich die Sprachfähigkeiten von Kindern am schnellsten. Unterhaltungen sind deshalb besonders wichtig.
Social-Media-Verbot als Lösung?
Australien testet nun eine Maßnahme, um die Bildschirmzeiten, besonders von jungen Jugendlichen, zu reduzieren: Ab Anfang 2025 dürfen soziale Medien nur noch ab einem Alter von 16 Jahren genutzt werden. Die Plattformen haben ein Jahr lang Zeit, um Alterskontrollen einzurichten. Strafen für Kinder und Jugendliche unter 16, die das Verbot umgehen, soll es keine geben. Ob und welche Auswirkungen die Maßnahmen haben, wird sich zeigen.